Zeit finden für eine Umarmung

Die Wallfahrt des Kreisverbands Heilbronn

Aufbrechen aus dem Gefüge des Alltags um mit Gleichgesinnten eine bestimmte Zeit, einen besonderen Zustand von Spiritualität an einem Gnadenort zu erfahren bezeichnen wir als Wallfahrt. Und als solche war diese Fahrt für Samstag, 07. Mai, nach Ave Maria bei Deggingen, angekündigt. Und es wurde ein Samstag, der die Teilnehmenden nicht nur allein mit der wohltuenden Wirkung dieser besonderen Form der Glaubenserfahrung bereicherte. Schon die ersten Morgenstunden ließen einen schönen Frühlingstag erahnen. In einem marianischen Blau grüßte der Himmel die Pilger, die an den verschiedenen Haltestellen ab Leingarten bis Heilbronn in den Bus zustiegen. Die hell glänzende Sonne strahlte in die Gesichter von Jung und Alt und schuf so angenehme äußerliche Bedingungen für diese Fahrt. Mit der Bitte um die Zuneigung Mariens erbat Anton Michels für uns den Reisesegen und stellte die Wallfahrt nach Deggingen unter den mütterlichen Schutz Mariens.

Der „englischen Gruß“ gewährte uns den Einstieg in das kürzeste Grundgebet der  katholischen Christen, das uns das Wesentliche des Glaubens in wenigen Sätzen zu verinnerlichen versteht und war zugleich auch der Beginn des meditativen Teils der Wallfahrt. Theresia Mackert stimmte das erste Marienlied mit herzerfrischender Stimme an. Anna Frombach, mit ihrer sonoren aber sanften Altstimme, stützte die Melodie gekonnt, sodass es für die Reisegruppe ein Leichtes war in den wohlklingenden Gesang der beiden und die aus der Heimat vertrauten Marienlieder einzusteigen. Der „himmlischen Rose“, der „Sonnenumglänzete Maienkönigin“ singend und den freudenreichen Rosenkranz betend wurde unsere innere Haltung ausgerichtet auf dass der Geist Gottes durch die begnadete Fürsprecherin und Mutter der Kirche in uns wirke und uns mit Frieden, Dankbarkeit und Liebe erfülle.

Auch das Liedgebet von Theresia Eisele berührte uns im Herzen. Sie war auch diejenige, die später in der Wallfahrtskirche Ave Maria sehr bewegende Worte des Betens und des Dankens zum Abschluss der Eucharistiefeier an die Pilger, Helfer und Organisatoren richtete. In dieser besonderen Stimmung  und der unmerklich, beinahe gefühlsvollen Fahrweise unseres Busfahrers hatten wir unser Ziel erreicht. Gebettet in frischem Grün der Lindenbäume schaute von einer Anhöhe auf uns hinab das Marienheiligtum. Zu ihren Füßen versammelten sich die angereisten Pilger.  Wir waren verabredet, nicht nur mit Maria. Auch die Landsleute des Kreisverbandes Reutlingen und die Gruppe der HOG Sackelhausen  gehörten zu dieser Verabredung. Wer zu dieser Begegnung neu dazukam, erkannte schnell – als die Fahnenabordnung und Kreuzträger die Prozession in Bewegung brachte – dass die Pilgerschar sich schon häufig zusammengetan haben muss, um genau zu sagen, zum 26. Mal.

Während die Pilger ein Teilstück des Weges zur Kirche in Stille zurücklegten, stellte sich mir die Frage, ob zu dieser spirituellen Sehnsucht, diesen Gnadenort aufzusuchen, es noch weitere, zutiefst menschliche Gründe gibt, die Pilger hierhinführen. Und ich fand Antworten: Da war die Freude des Wiedersehens der Bekannten, Verwandten und Freunde zu spüren und zu sehen, die seit Längerem nichts voneinander gehört hatten und sich hier zu treffen nicht vermutet hätten. Dass Heimatpfarrer Peter Zillich da war und mit seinen Landsleuten in alt vertrauter Weise diesen Tag verbrachte, mit ihnen das Hochamt, den Kreuzweg und die Maiandacht feierte. Genießen zu dürfen, dass der Gesang der Pilger von der Donauschwäbischen Blaskapelle Reutlingen und dem Banater Chor Reutlingen, beide unter der Leitung von Johann Frühwald, begleitet wurde, war ein weiterer Aspekt der das Gemeinschaftsgefühl nährte. Der Wunsch im vertrauten Dialekt Erinnerungen aus der Jugend zu teilen oder über die Zeit von Früher sich mit der Altersgruppe auszusprechen, die wie sie selbst, diese auch erlebt hatten. Über den Zustand des eigenen Heimatortes seiner Kirche oder des Friedhofes zu sprechen.

Irene aus Grabatz  wünschte sich zum Geburtstag von ihrer Schwägerin eine gemeinsame Unternehmung an einen Wallfahrtsort.  Dieser Wunsch hatte einen tiefen Beweggrund und war als Dank an Maria zu verstehen für die Rückkehr aus dem Baragan, wo sie als 5jährige mit ihren Eltern 5 Jahre verbringen musste. Elli aus Hatzfeld schenkte ihrer Schwägerin diese Tageswallfahrt heute. Auch die Hatzfelderin hält an ihrer Beziehung zu Maria fest. Sie erzählte wie wichtig es für sie war, als sie ihr erstes Auto gekauft hatte und mit diesem nach Maria Radna fuhr und um den Segen für eine unfallfreie Fahrt zu bitten. Erfolge, Enttäuschungen und Schicksalsschläge, all das was zum Leben gehört, wollte man mit Menschen teilen, bei denen ein entsprechendes Verständnis schon vorhanden war dadurch, dass sie ebenfalls Banater Schwaben sind.

Unter ihnen waren auch solche die ihre Erfahrungen und Erlebnisse der jüngeren Generation erzählen  wollten, die dafür Interesse zeigte. Und sie fanden zueinander, der Neugierige und der Erzählwillige. So schilderte Michael Wolf,  88 Jahre alt und aus Bakowa stammend, dass er etwa 30 Jahre lang, im September, später dann im August, Prozessionsgruppen seiner Heimatgemeinde von Bakowa nach Maria Radna leitete. Von seinem Großonkel wurde er damals geschult. Die Wallfahrtsprozessionen fanden unter schwierigen und in den Jahren der Nachkriegszeit gefährlichen Bedingungen statt. Die einfache Strecke war 70 km lang und wurde zu Fuß in drei Tagen zurückgelegt.

Heute ist er mit Landsleuten im Bus angereist und mit dabei hatte er das barocke Gnadenbild von Maria Radna, dass er zu Beginn des Hochamtes an den Altar stellte und die verehrende Begrüßung Mariens genau wie damals in Radna frei vortrug, mit beeindruckender und fester Überzeugung. Später zeigte er mir sein Kleinod, ein in gotischer Schrift abgefasstes und von den Spuren der Zeit gekennzeichnetes Anleitungsbüchlein, das ihn stets auf der Wallfahrt begleitet hatte. So auch heute.

Mit „Großer Gott wir loben dich“ erreichten die Pilger den Eingang der Barockkirche. Beim Eintreten wurde die Gemeinschaft vom Gnadenbild am Hochaltar in den Blick genommen. Maria mit dem Kind im Arm umarmt mit ihrem mütterlichen Blick die Eintretenden. Für den ein oder anderen war an diesem Morgen dies sicherlich nicht die erste Umarmung aber durchaus eine auf die man sich schon lange vorbereitet hatte.

 „Wir brauchen 4 Umarmungen pro Tag um zu überleben. Wir benötigen 8 Umarmungen pro Tag zum Leben. Wir benötigen 12 Umarmungen pro Tag zum Wachsen.“  Virginia Satir  brachte damit zum Ausdruck, dass die Umarmung unabdingbar für unser innerliches Wachsen sei, für das sich Angenommen fühlen, im Grunde lebensnotwendig ist. Welche Umarmung wir auch immer erfahren dürfen, der Motor bleibt immer derselbe: die Liebe. Denn ohne die Liebe ist Leben nicht möglich. Und Leben bedeutet in guter Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott zu stehen.

Wer zu Maria geht, wer zu ihr betet, fasst Vertrauen. Er weiß sich von ihrer Liebe umarmt. Hier fängt Glaube an und wächst die Beziehung zu Christus und den Menschen zugleich. Hier, wo man sich gegenseitig Zeit schenkt, schöpfen wir Kraft und erfahren wir lebensbestärkende Zeichen. Solche Botschaften vermitteln Wallfahrtsorte. Dass wir von dieser Begegnung in Gemeinschaft lange Zeit zehren mögen wünsche ich allen, die dabei waren.

Wilhelmine Maria Fuss