Zeitzeugin: KATHARINA FRANK Kapitel 3.8.: Geteilte Geschenke und Einäugleins Versterben

Die Gefangenengruppe meiner Urgroßmutter hatte so einige Schwierigkeiten mit einem ihrer Aufseher, dem sogenannten „Natschalni“, aber auch in Kriegszeiten, besser gesagt, in Nach-Kriegszeiten und vor allem dann, gibt es wiederum Menschen, die versuchen Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Nachdem die Machenschaften des zügellosen Wärters aufgeflogen sind, folgte eine Zeit mit den Umständen entsprechenden gerechteren Aufsehern. Die Insassen hatten vermehrt Ausgangszeiten, durften zu Kirchenfeiern und erhielten zunehmend Spenden und Geschenke von den russischen Anwohnern. Diese verstanden, dass die Menschen in dem nahegelegenen Lager auch nur Bauern wie sie gewesen sind und dass in deren Heimat die Kinder und Familien genauso vor zerstörtem Land stehen. Das Banat wurde in dem Sinne nicht von Bomben zerstört, aber die Situation hatte sich komplett verändert, das Leben würde nicht mehr das gleiche sein. Und meine Urgroßmutter war über 1000 km von der Heimat entfernt.

In dem Arbeitslager waren nicht nur Deutsche zwangseinquartiert. Das russische System war zu der Zeit auch nicht das „offenste“, Systemgegner wurde schnell weggeschafft. Auch in eben jene Arbeitslager. Es musste sich gar nicht um großartigen Widerstand, um eine Sabotage oder derartige Aktionen handeln. Kritische Äußerungen, ablehnendes Verhalten oder verweigernde Partizipation genügten für die Machthaber in diesen schwierigen Zeiten vollkommen  aus, um jeglicher Opposition den gar aus zu machen. Das System in Russland war ebenso streng-radikal und system-diktatorisch, die Kriegslage stimmte die Situation nur noch schlimmer und erhöhte den Druck. Landseigene Kritiker wurden zu Tausenden mundtot gemacht und gleichsam wie die abtransportierten Kriegsgefangenen zwangsinterniert. In den Lagern arbeiteten also Deutsche und Russen nebeneinander. Wer war also nun der Feind? Wer ist der Gegner und wer ist Leidensgenosse? Menschen bestimmen, und oft nicht gut. Meine Urgroßmutter konnte aber sehen, dass auch dort in Russland viele Einheimische das selbe Leid wie sie durchleben mussten. Russische Gefangene wurden von ihren Familien besucht, die ihnen Lebensmittel und brauchbare Dinge brachten. Je nachdem, was die Wärter zuließen. Ein wichtiger Mitleidender war das sogenannte „Einäuglein“, der aufgrund eines Unfalls sein Leben verlor. Seine Familie hatte nicht nur ihn mit Lebensmitteln versorgt, sondern auch eine Vielzahl weiterer der Lagerinsassen. Nach dem Tod des „Einäugleins“ befürchteten die Gefangenen, sich wieder auf das Hungern einstellen zu müssen.


>>> VERSCHRIFTLICHUNG DES INTERVIEWS <<<

Kapitel 3.8. – [ VERSCHLEPPUNG ⛓ ]
? Geteilte Geschenke und Einäugleins Versterben ⛪

Also nochmal dort gearbeitet. Aber dann war es schon etwas anders. Da war nochmal ein anderer Natschalni, der hat das dann eingeteilt. Und der war gut. Und wenn wir dann essen gegangen sind, die Stadt war oben in der Höhe, und ein großes, also da in der Mitte war die Kirche. Und da drüben in dem runden Ding, da war die Stalova, die Küche. Jetzt ist er an einem schönen Tag gekommen:

(Frauen): Na wo gehen wir hin?

Haben wir gefragt.

                                          (Natschalni): Nuparischna. 

Hat er immer gesagt. Naja, nur auf die Kirche dort zu. Dort neben dann, da haben wir uns alle hinstellen müssen. Auf einmal ist die Kirchentür aufgegangen. Da war Ochsenweihe. Da sind die Frauen dann raus gekommen mit ihren Ehemännern. Die haben da Obst gehabt und Pereschki und Honig und alles. Und dann ist der Pfarrer gekommen und hat das alles gesegnet. Und die, so wie das da ging, die sind dann alle auf uns zu und haben uns gegeben. Wir hatten da die Kopftücher. Dann hat er gezeigt:

                                          (Natschalni): Runterholen! Und tut es rein!

Die Schürzen haben wir genommen, wir haben Schürzen angehabt noch.

                                          (Natschalni): Tut´s rein!

Dort war alles durcheinander. Birnen, Apfel, Bireschki, Honig, also was sich da getan hat! Der war so glücklich der Mann. Also dann sind wir in die Stalova.

(Wärterin): Ja, jetzt kommt ihr! Hat die geschrien. Jetzt ist nichts mehr zu essen.

(Frauen): Wir brauchen jetzt nichts mehr Großes, gib uns einfach Papier.

Die hat gar kein Papier gehabt. Jetzt ist er gegangen und hat Papier gebracht und hat das alles da ausgeleert. Da war dann alles so verschmiert. Wenn ich dran denke! Aber das war gut. Dann haben wir das in das Papier eingepackt. Und dann sind wir runter in die Baracke. Dann hat der Natschalni gesagt:

                                          (Natschalni): Ihr könnt jetzt heim gehen. Ihr braucht jetzt                                                                     nicht mehr arbeiten. Es ist schon gleich 4 Uhr.

Wir sind in die Baracke gekommen und da waren schon ein paar daheim, die in der Troia-Zeche waren und beim Ausbau und bei der Bahn. Die haben es ja leicht gehabt. Die konnten ja. Also das war dann alles in dem einen Zimmer auf dem großen Tisch, dort haben wir dann alles drauf geleert. Alle herkommen. Wir waren 37 in dem Zimmer. Ein jeder kann essen, solange wie man will, solange was auf dem Tisch liegt. Aber sie müssen zufrieden sein, weil der Honig hat alles verschmiert.

(Kameradinnen): Wo habt ihr denn das alles her?

Haben sie dann gefragt.

(Frauen): Na, wir haben einen guten Natschalni. Der hat uns etwas Gutes getan.

Haben wir dann gesagt. Dann an einem schönen Tag, da hat er mit uns auf den Friedhof gehen wollen. Aber das haben wir dann nicht zugelassen. Wir waren an dem Tag jetzt, also wir waren verrückt alle miteinander. Und als wir dann vom Essen raus sind, da war so eine Anhöhe und da haben wir uns dann hingesetzt.

(Natschalni): Parischna?Was macht ihr?

                             (Frauen): Ja nimakretki, schtischtalova!  Wir haben keine Kraft                                                       mehr zum Arbeiten.

(Natschalni): Ja, nein, ja wie, ja was? Ich bin doch nicht schuld. Das tut mir doch auch Leid. Aber kommt doch. Wenn ihr nicht mit mir kommt, dann verlier ich meinen Posten. Und dann hab ich doch keine Arbeit.

Dann werde ich dir erzählen, also wir sind mit ihm gegangen. Und das Einäuglein, dessen Frau hat ihm mittags immer Essen gebracht. Dann ist doch der Sommer gekommen. Und die hatten ein Haus und ein Garten und Obst. Die Frau hat uns immer Obst gebracht mittags. Wir waren doch so froh und so glücklich. Wir haben da schon gewartet.

                             (Frauen): Na, bald kommt sie! Schau nur, schau! Da kommt sie!

Sieben Kinder hatten die. So bis 15 Jahre. Die Kinder hat sie nicht mitgebracht. An einem Tag haben die so wenig gesprengt gehabt. Hör zu, weil jetzt kommt was Großes. Da hat der Mann sich so reingearbeitet, um Erde zu machen. Der hat aber nicht gesehen, dass der Felsen sich löst. Der Felsen hat sich gelöst und hat ihn zusammengedrückt. Dann haben sie so einen großen Kran gebracht. Ganz breit war er gedrückt. Wir standen da. Seine Frau war schon verständigt. Die ist dann gekommen mit den Kindern. Die haben doch so geweint. Und wir haben mitgeweint. Das Einäuglein ist gestorben. Dann hat die eine gemeint:

(Kameradin): Na wart nur, jetzt kriegen wir kein Obst mehr.

Die Frau hat uns immer gebracht. Und so muss man sehr gut aufpassen bei so etwas. Was sich da alles zugetragen hat, das kann man gar nicht sagen. Das kann man nicht sagen. Da kommt noch so viel. Ich hab ja gar nicht alles erzählt.


<<< Kapitel 3.7. Ausbüchsen aus der Gartengrube <<<

>>> Kapitel 4.1. Ich darf endlich nach Hause! >>>


Zum Anfang und zur Übersicht geht es hier:

PART IV – NACH DER HEIMAT

PART III – VERSCHLEPPUNG

PART II – KINDHEIT

PART I – INTRO